Das Ideal der kurzen Wege

Kategorien: Business + Netzwerk, Wohnen + Stadtteilentwicklung
Postet am: 08.12.2021
von Wien 3420 AG
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Was bedeutet ressourcenschonendes Stadtleben? Ein Gespräch mit Gernot Wagner, Klimaökonom und Buchautor („Stadt Land Klima“), über die Probleme von Zersiedelung und Bodenversiegelung sowie über die positive Vision einer zeitgemäßen Stadtentwicklung.

Von Christian Lenoble

Was darf man sich im Idealfall unter einem innovativen, kompakten und ressourcenschonenden Stadtleben vorstellen – und was sicher nicht?

Gernot Wagner: Beides ist relativ einfach mit dem Grundsatz der kurzen Wege zu erklären. Nennen wir es die 15-Minuten-Stadt. Sprich, ich sollte alles, was für mein Arbeits- und Sozialleben wichtig ist, innerhalb von 15 Minuten erreichen können – natürlich ohne Auto. Wohnung und Arbeitsplatz in unmittelbarer Nähe, wenige Gehminuten zu Supermarkt, Geschäften, Apotheke, Kindergarten oder Lokalen, um Freunde zu treffen. Das ist nicht nur angenehm, sondern auch ökologisch sinnvoll.

Die Gegenthese dazu ist der Vorort, von dem so viele träumen, also das Einfamilienhaus im „Grünen“ und der Pendlerverkehr zum innerurbanen Arbeitsplatz. Das ist in vielerlei Hinsicht kein guter Trend. Menschen isolieren sich in ihren Häusern mangels bequemen, leicht erreichbaren Gemeinschaftsorten und lange (Auto-)Wege zur Arbeit oder zum Einkaufen kosten Geld und Zeit und belasten das Klima. Das ist kein zeitgemäßes Konzept für ein gutes, nachhaltiges Leben. Und da sprechen wir noch gar nicht von der Bodenversiegelung.

Sprechen wir von der Bodenversiegelung. In Österreich werden täglich 13 Hektar Boden verbaut. Was läuft falsch?

Es ist unfassbar, dass in Österreich alle zehn Jahre eine Fläche von der Größe Wiens verbaut wird. Die Versiegelung muss irgendwann aufhören, weil sie die Umwelt belastet und Lebensraum zerstört. Symptomatisch sind Einfamilienhaussiedlungen, die aus dem Boden gestampft werden, und das nicht selten mitten in der Pampa. Gemeinden fransen in die Landschaft aus und Straßen werden zur Anbindung gebaut. Die entscheidenden Faktoren dafür sind Reichtum und Dichte: Während Reichtum Emissionen erhöht, werden diese durch dichtes Bauen verringert. Vororte profitieren meist von relativ hohem Reichtum und relativ geringer Dichte. Worst Case also. In Vororten sind die Emissionen pro Bewohner nicht zufällig doppelt so hoch wie in der Stadt oder am tatsächlichen Land.

Was ist die Wurzel des Übels?

Eine Reihe von Rahmenbedingungen und jene Interessensgruppen, die davon profitieren. Die Raumordnungs- und Flächenwidmungskompetenz ist hoheitliches Recht der Gemeinden. Solange es eine Kommunalsteuer gibt, die von den Gemeinden eingehoben wird, haben diese ein Wettbewerbsinteresse daran, um Betriebs- und Wohnansiedelungen zu buhlen. So kommt Geld in die Gemeindekasse – ein „gutes“ Motiv, um passende Widmungen zu erlassen und Flächen zu verbauen, die eigentlich geschützt sein sollten.

Ein anderes Grundübel ist die Reichsgaragenverordnung aus dem Jahr 1939 (!), in der eine Stellplatzpflicht für Automobile bei Neubauten vorgeschrieben wurde. Damals war das Ziel, im privaten Bereich den stark wachsenden Automobilverkehr zu fördern. Heute sollte man gegenteilige Ziele haben, nämlich die Reduktion des Autoverkehrs, der den Kreislauf der Zersiedelung und der Zerstörung öffentlicher Flächen ankurbelt. Ich nehme an, das scheitert am Druck der Autofahrer und ihrer Lobbys. 

Intelligente Mobilität und kurze Wege sind also die Kernthemen. Wie gefällt Ihnen diesbezüglich das Konzept der Seestadt?

Lassen Sie mich vorab ein Negativbeispiel in Sachen Mobilität bringen, Stichwort Tullnerfeld. Da wurde ein „gut gemeinter“ Bahnhof errichtet. Die Argumente für den Bahnhofbau waren, das Pendeln mit dem Zug zu ermöglichen. De facto ging es aber darum, die Gegend zu erschließen und Menschen den Hausbau zu ermöglich. Dass der Bahnhof weit weg von allem steht und von drei Parkhäusern umringt ist, zeigt das Absurde daran, weil es zu mehr Autofahrten, mehr CO2-Ausstoß und mehr Bodenversiegelung geführt hat.

In aspern Seestadt ist das zum Glück anders gelaufen. Hier wurde das Gebiet durch die U2 schon vorab erschlossen. Das ist natürlich ein Riesengewinn in Sachen Nachhaltigkeit, wenn man so den Autoverkehr reduziert. Innerhalb des Gebiets wurde planerisch das Konzept der kurzen Wege verfolgt, und zwar vorausschauend. Geschäfte und die gesamte Alltagsinfrastruktur waren seit Beginn da. Der Immobilienmakler musste nicht durch die Straße gehen und seiner Klientel sagen: „Da wird ein Kaffeehaus hinkommen und hier später einmal ein Supermarkt. Noch steht alles leider leer. Aber das wird super.“ Sondern er konnte sagen: „Schauen Sie, das ist meine Lieblingsbar, hier gibt’s die besten Pizzas und in diesem Kindergarten ist es wirklich schön sonnig.“ So lässt sich ein neues Wohn- und Lebensquartier natürlich wesentlich besser präsentieren.

Und darum geht es, um ein attraktives Stadtviertel mit kurzen Wegen zwischen Wohnen, Arbeit und Freizeit sowie einen gesunden Mix an vorhandener Infrastruktur statt leerstehender Geschäftsflächen. Damit kann die notwendige Dynamik hergestellt werden, die es braucht, um Menschen zu verleiten, hierher zu ziehen. Dazu kommen natürlich zertifizierte, gut isolierte Gebäude, ausreichend Grünflächen, Spielplätze usw. Das alles, sprich das Ideal eines modernen Stadtteils, scheinen sich die verantwortlichen Planer und Entwickler in aspern Seestadt gut überlegt und umgesetzt zu haben.

Sie sprechen von Dynamik. Und dennoch kommt immer wieder medial die Kritik auf, dass solche Stadtentwicklungsgebiete zumindest in den ersten Jahren etwas leblos wirken.

Das liegt in der Natur der neuen Sache. Man kann das Lebendige nicht vom ersten Tag an erfinden und neue Stadtquartiere nicht mit über Jahrzehnten organisch gewachsenen Vierteln vergleichen. Es braucht Zeit, bis sich Räume mit Leben füllen. Entscheidend ist vielmehr, ob die Planer und Entwickler überhaupt die Grundvoraussetzungen dafür angelegt haben, dass sich Lebendigkeit mit den Jahren entfalten kann. Es sollen die unterschiedlichsten Gruppen – Singles, kinderlose Paare, Jungfamilien, Pensionisten – ihre Präferenzen in einem gemeinsamen Raum erfüllen können. Dann gibt es die Chance, dass etwas wächst, das auch in 30 Jahren noch lebenswert ist. Mein Eindruck ist, dass in aspern Seestadt auch diese langfristige Vision berücksichtigt wurde.

 

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